Bach- und Palestrina-Renaissance: Musik und ihre Geschichte

Bach- und Palestrina-Renaissance: Musik und ihre Geschichte
Bach- und Palestrina-Renaissance: Musik und ihre Geschichte
 
Das 19. Jahrhundert war eine Epoche des Sammelns, Ordnens und Bewahrens, der Erforschung und Deutung dessen, was aus älteren Zeiten überliefert ist. Die Hinwendung zum Geschichtlichen und die Tendenz zu deren Verklärung waren ein Erbe romantischer Geisteshaltung. Auch die Geschichte der Musik gewann neben Sage und Märchen, Volks- und Brauchtum, Dichtung und Malerei des Mittelalters und der Renaissance jetzt ein erhöhtes Interesse. Das öffentliche Konzertleben schuf die Möglichkeit, Werke der Vergangenheit zu bewahren und, einem klingenden Museum vergleichbar, immer wieder aufzuführen. Das gesamte Schaffen Beethovens sowie die reifen Werke Mozarts und Haydns bildeten den Grundbestand eines historisch sich immer breiter ausfächernden Repertoires, von dem sich die gegenwärtige Musik als das spezifisch Neue und Andere abhob. Dem Hörer wurde so die Geschichtlichkeit des Musikalischen unmittelbar bewusst. Und das jeweils Moderne forderte im Vergleich mit dem klassisch Etablierten kritische Wertungen, Zustimmung oder Ablehnung geradezu heraus.
 
Hieran anknüpfend vermittelte das Musikschrifttum in immer stärkerem Maße Beurteilungskriterien für die Kompositionen älterer Stilepochen. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts zeigten sich die Anfänge einer Musikgeschichtsschreibung im neueren Sinne. Mozart war der erste Komponist, dessen biographische und werkhistorische Darstellung ohne Bruch unmittelbar nach seinem Tode einsetzte, begünstigt durch den Umstand, dass sein erster Biograph, Georg Nikolaus von Nissen, den Mozarts Witwe Konstanze 1809 geheiratet hatte, direkten Zugang zu den umfangreichen Quellen besaß. Das Leben und Schaffen älterer Musiker war dagegen meist nur bruchstückhaft bekannt.
 
Der Prozess der historischen Erschließung setzte im Wesentlichen mit der ersten Bach-Biographie von Johann Nikolaus Forkel (»Ueber J. S. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke«, Leipzig 1802) ein. Nur wenige seiner Kompositionen, zum Beispiel das »Wohltemperierte Klavier«, waren zu dieser Zeit in Musikerkreisen einigermaßen verbreitet. Erst 1829, mit der Wiederaufführung der »Matthäuspassion« durch Felix Mendelssohn Bartholdy und die Berliner Singakademie, wurde Bachs Musik einem größeren Publikum bekannt. Eine national geprägte Bach-Begeisterung in Deutschland, aber auch eine umfassende europäische Bach-Rezeption nahmen von hier aus ihren Anfang. 1850 erschien der erste Band einer Bach-Gesamtausgabe, initiiert unter anderem durch bedeutende Musiker wie Robert Schumann und Franz Liszt. 1873 bis 1880 veröffentlichte Philipp Spitta seine umfassende Bach-Biographie. Im Werk fast aller führenden Komponisten seit dem späten 18. Jahrhundert hat die Beschäftigung mit Bach unübersehbare Spuren hinterlassen. Das gilt bereits für Mozart, mehr noch für Beethoven, vor allem für dessen späte Klaviersonaten und Streichquartette, in besonderer Weise jedoch für die Musiker der Schaffenszeit nach 1830 von Schumann über Johannes Brahms bis zu Max Reger. Ein herausragendes frühes Beispiel für eine intensive Bach-Adaption findet sich im Werk Mendelssohns, in seinen Motetten, seinen Präludien und Fugen für Klavier und für Orgel und in seinem Oratorium »Paulus« (1836).
 
Die wachsende Kenntnis der Werke Bachs hat aber nicht nur die Geschichte der Komposition, sondern das Musikleben überhaupt nachhaltig verändert und das Interesse für Stilbereiche und Aufführungsbedingungen alter Musik geweckt. Forschung und experimentierende Instrumentalpraxis haben sich hierbei ergänzt und immer neue Interpretationsmöglichkeiten erschlossen. Der von Bach ausgehende Prozess der Zuwendung zu barocker und vorbarocker Musik unterlag somit selbst einer geschichtlichen Entwicklung. Und es ist aufschlussreich, anhand der verschiedenen Stufen der Bach-Renaissance seit etwa 1800 exemplarisch die stets sich wandelnde und erneuernde Auseinandersetzung mit der Musik der Vergangenheit zu beobachten.
 
Ein zweiter historischer Ansatz, in der Breitenwirkung nicht ganz der Wiederentdeckung Bachs vergleichbar, musikgeschichtlich jedoch ähnlich bedeutsam und in ähnlicher Weise von romantischem Geist getragen, ist die Hinwendung zur Musik des späten 16. Jahrhunderts. Das Interesse zielte hier in erster Linie auf Palestrina und konnte in diesem Fall an eine seit 200 Jahren wirksame Vorbildfunktion eines tradierten Stilideals anknüpfen. Denn schon im 17. und 18. Jahrhundert lehrte man die Satzweise der römischen Komponistenschule um Palestrina als »stile antico« oder »stylus gravis« und verwendete sie vor allem in geistlichen Werken als Kirchenstil par excellence. Indem dessen strenge Kontrapunktik in die barocke konzertante Schreibweise integriert wurde, konnten ältere und neuere Satztechniken nebeneinander in der gleichen Komposition auftreten. Daraus resultierte, erstmals in der Musikgeschichte, ein Stildualismus, dessen innere Spannung durchaus hörbar ist.
 
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch war das Nebeneinander älterer und neuerer Schreibweisen eine Frage der Kompositionstechnik und der Ausdrucksmöglichkeiten mithilfe der zur Verfügung stehenden Mittel. Die Palestrina-Renaissance des 19. Jahrhunderts akzentuierte demgegenüber die historische Rückbesinnung als Abwendung von der Musik der eigenen Gegenwart. Ihr Streben zielte auf eine reine, von zeitgenössischen »Verirrungen« freie, religiöse Vokalmusik, ein Ideal, das auch den damaligen Reformansätzen der katholischen Theologie entgegenkam. Der Dichter-Musiker E. T. A. Hoffmann war in seinem Aufsatz »Alte und Neue Kirchenmusik« (1814) einer der ersten, der in romantischer Begeisterung auf den älteren Kirchenstil als Vorbild verwies. Er komponierte sogar selbst einige schlichte, unbegleitete Vokalsätze, die allerdings kaum an den A-cappella-Stil und die Polyphonie des 16. Jahrhunderts anzuknüpfen vermochten. 1825 erschien dann die einflussreiche Schrift »Über Reinheit der Tonkunst« von Anton Friedrich Justus Thibaut und schließlich 1832 eine grundlegende wissenschaftliche Palestrina-Studie von Carl von Winterfeld.
 
Alle Komponisten und angehenden Musiker haben sich seitdem mit dem Palestrinastil als der vollkommensten Ausprägung kontrapunktischer Schreibweise auseinander setzen müssen. Darüber hinaus führten diese Impulse nicht nur zu einer speziellen Richtung innerhalb der Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts, sondern prägten in Teilen und bestimmten Stilmomenten viele bedeutende sakrale Kompositionen dieser Zeit, etwa bei Liszt, Anton Bruckner und Brahms.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
 Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Michael Raeburn und Alan Kendall. Band 3: Die Hochromantik. München u. a. München u. a. 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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